Die zweite Chance
Mit sozialpädagogischer Betreuung soll jungen Straffälligen geholfen werden, ein neues Leben aufzubauen. Christine Schicho ist eine der dafür speziell ausgebildeten Expertinnen in der Justizanstalt Klagenfurt.
Resozialisierung von Inhaftierten, speziell von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, ist eines der Ziele des österreichischen Strafvollzuges. Mit dem Einsatz von Sozialpädagoginnen und -pädagogen sollen diese Bemühungen verstärkt und die Erfolgschancen für die jungen Leute erhöht werden, damit – so die Hoffnung des Gesetzgebers – möglichst viele von ihnen nach der Entlassung in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt integriert werden und ein konfliktfreies Leben führen können.
Verstärkte Motivation fördern
Daran arbeiten nun Expertinnen und Experten wie Christine Schicho in enger Zusammenarbeit mit dem sozialen Dienst, Psychologen und den Justizwachebeamten und -beamtinnen, die auch für die Sicherheit der Pädagoginnen und Pädagogen zuständig sind. „Teamarbeit ist hier extrem wichtig. Und wir sind ein gutes Team“, sagt Schicho. 2015 wurde die sozialpädagogische Betreuung für Jugendliche und junge Erwachsene im Strafvollzug geschaffen, nachdem es in einer Justizanstalt in Wien zu sexuellen Übergriffen unter Jugendlichen beziehungsweise jungen Erwachsenen gekommen war. Die Liste jener Ziele und Aufgaben, die erfüllt werden sollen, ist lang: Förderung der Leistungsbereitschaft, eine bessere Einstellung zur Arbeit, verstärkte Motivation, höhere Kommunikations- und Konfliktbereitschaft, Verbesserung der sozialen Verantwortung, Steigerung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit und eine Stärkung des Selbstwertgefühles.
Schwierige Verhältnisse
„Vielfach geht es nicht um Resozialisierung, sondern um Sozialisierung“, erzählt die Expertin. Viele der jungen Menschen haben nie ein geordnetes Leben kennengelernt, sie sind nie in der Gesellschaft angekommen. Nicht wenige müssen erst die ganz normale Alltagssprache lernen, den Umgang miteinander. Die Muster sind großteils die gleichen: „Zu 80 Prozent stammen sie aus schwierigen Familienverhältnissen“, sagt Schicho. Wechselnde Partnerschaften der Eltern, Patchworkfamilien, die nicht funktionierten, prügelnde Eltern, Alkohol, Drogen, Überforderung. Kinder, die nie Zuneigung und Wertschätzung erfuhren, weder in ihren ersten Lebensjahren noch später. Dazu kommt, dass in diesen Familien das Geld meist knapp ist. Sogenannte „Wohlstandverwahrloste“ finden sich im Strafvollzug kaum wieder. „Hier sind die notwendigen finanziellen Mittel vorhanden, um rechtzeitig einschreiten und entsprechende Therapien finanzieren zu können“, erklärt Schicho.
Massive Drogenprobleme
Die meisten ihrer Klienten sitzen wegen Eigentumsdelikten ein, oft auch in Zusammenhang mit Drogen. Sie stehlen oder brechen ein, um Geld für mehr Suchtmittel zu bekommen. Drogen sind ein Problem, das in den vergangenen Jahren immens gewachsen ist. Ecstasy, Heroin und Koks seien leicht zu bekommen, wenn man wisse wo und die richtigen Leute kenne. „Und süchtig ist man schnell, davon wegzukommen sehr schwierig“, weiß die Expertin aus ihrer täglichen Arbeit. Junge Menschen, die keine Perspektive haben, sich im Leben nicht zurechtfinden, sind für Verführer, die sie zu Drogenkonsum und -handel und zum schnellen Geld überreden, leichte Beute.
Andere Kulturkreise
Dazu kommen nun Burschen und junge Männer aus anderen Kulturkreisen, die erst lernen müssen, wie man sich Frauen, Behörden und der Polizei gegenüber verhält. So wie der minderjährige syrische Flüchtling, der mit dem Leben in Österreich nicht zurechtkam und zweimal straffällig wurde, wegen eines Eigentumsdelikts und wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Vor zwei Jahren wurde er entlassen und lebt jetzt in Wien. „Er ruft regelmäßig an und bedankt sich bei uns, dass er sein Leben auf die Reihe gekriegt hat“, sagt sie. Derzeit absolviert er den B1-Deutschkurs und ist kurz davor, eine Ausbildungsstelle zu bekommen.
Sicherheit geben
Basis der Arbeit ist stets die Entwicklung und Stabilisierung der Persönlichkeit. „Es geht darum, familienähnliche Strukturen herzustellen, den jungen Menschen Sicherheit zu geben. Sie müssen lernen, Regeln zu befolgen, einen strukturierten Tagesablauf zu leben, für sich selbst verantwortlich zu sein, ihre Zelle sauber zu halten.“ Für den Ausgleich und das Lernen in der Gruppe, den Umgang miteinander werden Spiele und sportliche Wettkämpfe veranstaltet. Dabei werden die Jugendlichen dort abgeholt, wo sie sich in ihrer Entwicklung befinden. Ihr Bildungsgrad sowie die Themen, die sie interessieren und belasten, werden erhoben.
Überzeugungsarbeit leisten
Das Angebot ist vielfältig und reicht von Schule über Lehre bis hin zu Workshops, in denen sie mit gesellschaftsrelevanten Themen konfrontiert werden. Arbeits- und Lernmöglichkeiten werden in der Küche, einer Schlosserei, der Wäscherei und der Tischlerei angeboten. Auch zwei Unternehmer-Betriebe und eine Kfz-Werkstätte stehen den Jugendlichen zur Verfügung. Schulabschlüsse können nachgeholt, Lehren abgeschlossen, EDV-Kurse absolviert werden. Das Angebot ist da, die Teilnahme an den Programmen erfolgt ausschließlich auf freiwilliger Basis. Daher gilt es, Überzeugungsarbeit zu leisten. Die Resonanz darauf sei ganz unterschiedlich, erzählt Schicho. Für viele sei es „uncool“, in der Gruppe zuzugeben, dass einem etwas gefalle und dass man gern mitmache. „Wenn man länger mit ihnen arbeitet, erkennt man die Muster“. Und die gilt es zu durchbrechen, möchte man etwas erreichen und dem Jugendlichen wirklich helfen.
Stabile Bezugsperson
„Der Mensch kommt prinzipiell nicht schlecht auf die Welt“, sagt sie. Doch wer im Laufe der Jahre die falschen Muster erfahre und lerne, komme von allein nur sehr schwer wieder heraus. Die beste Prävention sei eine stabile Bezugsperson. „Es spielt keine Rolle, wer das ist. Das kann ein Elternteil sein, oder beide, ein Großelternteil, eine Tante oder auch ein Nachbar. Wichtig ist, dass dieser Mensch für das Kind und später den Jugendlichen da ist, ihm Sicherheit gibt, ihn wertschätzt.“ Hier könnte auch das System ansetzen, meint sie. Nachmittagsbetreuungen oder Ferienbetreuungen mit einer sozial kompetenten Lehrerin oder Betreuerin wären für so manchen die Rettung. „Eine stabile Person im Leben eines Menschen kann oft Wunder wirken.“
Die Zeit danach
Betreuung gibt es auch nach der Entlassung aus dem Jugendgefängnis, für die meisten auf freiwilliger Basis, manchmal wird sie auch vom Gericht im Rahmen des Urteils angeordnet, um die Chancen für eine Wiedereingliederung zu erhöhen. Dafür stehen Sozialarbeiterinnen und verschiedene Einrichtungen zur Verfügung, die bei der Wohnungs- und Arbeitssuche helfen. Rückfälle sind nicht zu vermeiden. „Aber da gibt es auch jene, die einem – wieder in Freiheit – freudestrahlend entgegenkommen, weil sie es geschafft haben, in einem neuen Leben Fuß zu fassen“, freut sich die Sozialpädagogin. Für die „Zeit danach“ wünscht sich Christine Schicho daher noch mehr Betreuung, auch verpflichtend. Damit soll verhindert werden, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen sofort wieder in alte Muster schlittern oder mangels alternativer Möglichkeiten sich ihrer alten Clique anschließen. Damit beginnt dann häufig alles von vorn, und die Sozialpädagogin sieht ihren Schützling wieder. Außer er hat das 21. Lebensjahr bereits überschritten, ist also kein Jugendlicher oder junger Erwachsener mehr und hat dann nicht mehr die Chance auf zusätzliche Unterstützung und Zuwendung.
Text: Monika Unegg
Alkohol und Prügel
Es ist ein klassisches Schicksal, mit dem die Sozialpädagoginnen und -pädagogen regelmäßig konfrontiert sind. Patrick, nennen wir ihn so, kommt aus einer Patchworkfamilie. Der Stiefvater ist Trinker, er nimmt das Kind nie an und verprügelt es regelmäßig. Ein zweiter Bub kommt auf die Welt. Den eigenen Sohn schlägt der Mann nie, sondern immer den Stiefsohn, quasi auch als Stellvertreter, wenn er sich über sein eigenes Kind ärgert. Die Mutter ist zu schwach, sich gegen den Mann zu wehren und ihren Erstgeborenen zu beschützen. Der Bursche übernimmt das Muster des Stiefvaters, das ist alles, was er gelernt hat. Er trinkt schon im Alter von 14 Jahren ziemlich häufig und viel Alkohol. Wegen Eigentumsdelikten und Körperverletzung wird er verurteilt und befindet sich nun schon zum zweiten Mal in der Obhut der sozialpädagogischen Betreuung. Schicho ist optimistisch, dass er es diesmal schaffen könnte. „Er kann sich sehr gut reflektieren und hat einen starken Willen“, sagt sie. Glücklicherweise wurde er nicht alkoholkrank und ist auch nicht drogenabhängig. Das seien schon ganz gute Voraussetzungen, meint Schicho. Denn sobald ein Suchtmittel im Spiel sei, werde es ungleich schwieriger für die Betroffenen, wieder Fuß zu fassen.