Leider sind die meisten Schulen noch immer reine Wissensmachtbetriebe
Solange man in der Schule nicht fähig ist, zu individualisieren, versagt man am Menschen – so Schulgründer, Bildungsexperte, Regierungsberater und Buchautor Peter Fratton im Gespräch mit Villach exclusiv.
Individuell auf Schüler eingehen. Die Zeit und das System lassen das aber unter der gegebenen Struktur meist gar nicht zu; vor allem die „Zeit“ hängt uns offenbar allen im Nacken Herr Fratton.
Das stimmt. Und da ist die große Frage – übrigens nicht nur im Schulsystem: Wie kann die Zeit eine kleinere Rolle spielen? Aktuell spielt sie eine enorm große Rolle; innerhalb eines Jahres muss ein bestimmter, definierter Lehrstoff durchgenommen werden. Und wenn das nicht in diesem Jahr passiert, dann gehöre ich nicht mehr dazu, dann bin ich eben der Außenseiter oder sogar der Versager. Und so bitter es für uns Eltern ist, dann ist es einfach eine vernünftige Reaktion der Kinder, zu sagen, jetzt mache ich mal gar nichts. Solange man in der Schule nicht fähig ist, zu individualisieren, die Zeit und die Struktur hat, auf jede Schülerin, jeden Schüler einzugehen, dann versagt man am Menschen.
Die Legasthenie ist ein typisches Beispiel. Würde man einfach länger warten, bis die Differenzierungsfähigkeit, die bei jedem früher oder später kommt, eintritt und erst dann in die Schule gehen, gäbe es kaum Legastheniker – das ist eigentlich trivial, aber wir machen sie mit unserem Schulsystem, indem wir sagen, mit sieben Jahren müssen alle in die erste Klasse und in der ersten Klasse wird Schreiben gelernt.
Wie entkommen wir jetzt diesem festgefahrenen Dilemma?
Das Gefühl zu haben, wir haben alle Zeit der Welt, mindestens in der Zeit der Kindheit, da wäre schon ganz viel gerettet. Aber wenn wir natürlich einen Lehrplan haben, so wie wir in der Schweiz mit 500 Seiten, da fühlt sich der Lehrer schon gestresst, wenn er den Lehrplan nur anschaut. Hamburg macht jetzt einen neuen Lehrplan mit über 3.000 Seiten. Finnland hingegen, die wirklich eine individualisierte Schule haben, die kommen mit 120 Seiten aus. Und das müsste doch rein von der Anzahl her, vom Gewicht her, zu denken geben.
Und auch die Lernorte müssen gestaltet sein, und zwar menschlich, architektonisch, organisatorisch und strukturell. Eine geeignete Lernumgebung ist dann vorhanden, wenn alle Involvierten entspannt arbeiten können. Anspannung erschwert Aneignungsprozesse. Eine übliche Schule mit Schulzimmern, Korridoren und Garderoben erfüllt die Bedingung für Lernen im Gleichschritt mit Gehorsam, Stillsitzen und Ruhe. Solche Schulen nenne ich „Wissensmastbetriebe“. Corona hat im Übrigen auch aufgezeigt, welche Lernorte wirklich für autonomes Lernen geeignet sind. Es waren wenige. Überall dort, wo beklagt wird, man hätte wegen Corona Lernfortschritte gemindert, ist dies ein Indikator, dass das System versagt hat.
Mit welchen Kompetenzen, welchem Wissen sollen jetzt die Kinder/Jugendlichen am Ende ihrer jeweiligen, individuellen Schullaufbahn stehen? Was muss das übergeordnete Ziel sein?
Das übergeordnete Ziel muss sein, dass ich in möglichst allen Situationen mein Leben in Würde und Verständnis meistern kann. Ob ich dazu wissen muss, wie man quadratische Gleichungen mit zwei Unbekannten lösen kann, wage ich sehr zu bezweifeln. In einem ersten Schritt sollten die Lehr- und Bildungspläne umfangmäßig reduziert werden auf höchstens 80 Seiten für alle Lernjahre vom Schuleintritt bis zur Matura.
Wenn wir schauen, was es zur Lebensmeisterung braucht – welche Kompetenzen sind das?
Für mich sind es diese Kompetenzen: Fähigkeit zu planen, Theorie und Praxis verknüpfen zu können, lebenslanges Dazulernen, Konflikte vernünftig austragen zu können, eigene Interessen vertreten zu können, Mitverantwortung zu übernehmen, Symbole und unausgesprochene Hinweise zu verstehen, sich Ziele setzen zu können, Verständnis für technische und gesellschaftliche Grundlagen, Ausdauer und Konzentrationsvermögen, unterschiedlichen sozialen Rollen gerecht werden zu können sowie Genauigkeit und Kreativität. Jedes Lernen und Erfahren in der Schule sollte diese Kompetenzen fördern und daran gemessen werden. Ob ich diese Kompetenzen an Mathe, Geografie oder beim Gamen erwerbe und fördere, ist eigentlich egal.
Unterm Strich: Würde uns nicht allen etwas mehr Gelassenheit – auch in diesem Bereich – guttun? Ja, Lernorte müssen zwingend Orte sein, wo man gelassen lernen und verstehen kann: Kompetenzzentren für Fehlermanagement. Häufig sind es aber Fehlerverhinderungsanstalten: Man darf keine Fehler machen, also werden sie vertuscht, statt sie als Symptome für Dysfunktionalitäten im System zu verstehen.
In einer lernenden Organisation – und das sollte jede Schule zwingend sein – trägt jedes Verhalten seinen Teil zum Funktionieren des Gesamtsystems bei. Ziel ist dann nicht mehr die rasche Beseitigung von Problemverhalten oder Fehlern oder die Bestrafung oder der Ausschluss von Symptomträgern, sondern die Weiterentwicklung des (Schul-) Systems unter geteilter Verantwortung aller Beteiligten dieses Systems. Gelassenheit kann man nicht erarbeiten, sondern nur erdienen.
Text: Gerlinde Tscheplak