Die klassische Belehrungsschule ist mausetot
Mit sieben Nummer-1-Bestsellern und über 200.000 verkauften Büchern ist Andreas Salcher hierzulande einer der erfolgreichsten Sachbuchautoren. Österreichs härtester Schulkritiker im Interview mit Villach Exclusiv.
Sie schreiben das, was sich viele denken: unser Schulsystem verhindert mehr als dass es fördert
– zerstört Talente und nimmt den Kindern oftmals auch die Chance, erfolgreich durchs Leben zu gehen. Woran krankt es am meisten? Andreas Salcher: Den Kindern wird ständig ihr Versagen bzw. ihre Schwäche vorgeführt, anstatt Stärken und kreative Potenziale zu fördern. Die Schule verbeißt sich in unsere Schwächen. Es herrscht eine fatale Konzentration auf das Versagen und die Dokumentation des Versagens. Sowas nenne ich Talentvernichtung. Es stimmen einfach die Rahmenbedingungen in unserem Land überhaupt nicht. Wir haben das zweitteuerste Bildungssystem innerhalb der europäischen Gemeinschaft – mit dem Ergebnis, dass jeder fünfte 15-Jährige nach neun Jahren Pflichtschule nicht ausreichend lesen kann und die Grundbegriffe der Mathematik nicht verstanden hat. Und daran haben auch viele teure Maßnahmen – wie etwa die Neue Mittelschule mit verpflichtend zwei Lehrern in den Hauptgegenständen, Bildungsstandards, Zentralmatura oder die Senkung der Klassenhöchstzahl auf 25 – nichts geändert. Wir wissen beispielsweise aufgrund vieler Studien, dass es völlig egal ist, ob 25 oder 30 Schüler in der Klasse sind. Wir haben in der Europäischen Union eine der kleinsten Klassen-Höchstzahlen. Das alles macht unser System wahnsinnig teuer und verhindert, dass in Dinge investiert wird, die dringend notwendig wären.
In welchen Bereichen muss also investiert werden ?
Wir müssen ganz massiv in die Kindergärten investieren. Wenn wir die besten Kindergärten der Welt hätten, dann hätten wir automatisch auch eines der besten Schulsysteme. Zweitens brauchen wir ein Lehrerbild, das dem 21. Jahrhundert entspricht – mit modernen Arbeitsplätzen, mit Personalentwicklung, Aufstiegschancen aber auch mit Leistungsorientiertheit und verpflichtender Fortbildung sowie selbstverständlich auch mit Anwesenheit der Lehrer von 8 bis 16 Uhr an ihrem Arbeitsplatz. Und drittens führt überhaupt kein Weg daran vorbei, flächendeckend die Ganztagsschule einzuführen. Fast alle guten Schulen der Welt sind ganztägige Schulformen. Eltern, die Geld haben und ihre Kinder in hervorragende Privatschulen stecken, tun das in Ganztagschulen. Vor allem ist die Ganztagsschule auch für die immer größer werdende Zahl an Bildungsfernen die einzige Chance, aus dem Kreislauf herauszukommen.
Was helfen aber große Reformen und beste Rahmenbedingungen, wenn immer noch Lehrer auf Schüler losgelassen werden, die in ihrem Beruf völlig fehlbesetzt sind?
Das wird seit Jahrzehnten in jeder Bildungsreform gefordert, und dennoch passiert nichts. Wir haben viele Lehrer, die den Beruf aus einer falschen Motivation heraus gewählt haben oder für diesen Beruf einfach nur ungeeignet sind. Von diesen Lehrern muss man sich trennen können. Im österreichischen Bildungssystem ist es aber unmöglich, sich von einem Lehrer zu trennen, der nicht straffällig geworden ist. Hier muss man ganz klar das Interesse von Schülern über das Interesse von ungeeigneten Lehrern stellen. Der Direktor muss sich seine Lehrer aussuchen – sich aber auch von ihnen trennen können.
Das ist jedoch in Österreich immer noch ein Tabu. Es geht hier um Menschenleben – daher brauchen wir, wie bei den Medizinern, eine ganz klare Auswahl, wer für diesen Beruf geeignet ist und wer nicht. In Finnland beispielsweise selektiert man sehr sorgfältig: von zehn Leuten, die diesen Beruf ergreifen wollen, wird am Ende nur einer davon Lehrer. Bei uns gibt es de facto überhaupt keine Auswahl. Selbst wenn alle sagen, dass er ungeeignet ist, kann er trotzdem in diesem Beruf arbeiten.
Hätten wir die besten Kindergärten, hätten wir auch das beste Schulsystem, so eine Ihrer Kernaussagen. Was macht für Sie einen guten Kindergarten aus?
Das beginnt mit der Gruppengröße. Bei den Kleineren sind im internationalen Vergleich üblicherweise sechs Kinder in einer Gruppe, bei den Größeren acht Kinder pro Elementarpädagogen. In Österreich kommen auf eine ausgebildete Elementarpädagogin und eine Hilfskraft bis zu 21 Kinder. Von denen noch zu verlangen, dass sie Sprachnachteile wettmachen oder gar individuelle Talente-Förderung betreiben können, ist natürlich eine große Illusion. Wir haben hier ein strukturelles Hauptproblem; auch was Arbeitsbedingungen und Berufsansehen bzw. Entlohnung der Elementarpädagogen betrifft. In Ihren Büchern zeigen Sie nun schon seit Jahrzehnten auf, was bildungstechnisch in Österreich schief läuft. Alle nicken stumm mit dem Kopf, stimmen zu – und trotzdem verändert sich nichts. Warum ist Österreich gerade auf diesem wichtigen Gebiet so reformresistent? Offensichtlich ist es uns als Staatsbürger nicht wichtig genug, hier den entsprechenden Druck zu machen. Es gibt kein anderes demokratisches Land in der Welt, in dem Schule so in der Hand von zwei politischen Parteien ist wie bei uns in Österreich. Es gibt auch kein Land, in dem Schuldirektoren de facto von politischen Parteien bestellt werden. Das bedeutet, dass die geballte Macht der Landeshauptleute und der Lehrergewerkschaft einfach die Reformen immer wieder verschieben und blockieren. Die roten Bundesländer blockieren die Deutschpflicht – Teile der schwarzen Bundesländer verhindern die ganztägige Schulform. Dadurch steht alles.
Glauben Sie, dass sich am Schulsysten in nächster Zeit was ändern wird? Wo steuern wir bildungspolitisch hin?
Die Sorge, die ich nur habe – und das zeichnet sich immer deutlicher ab –, dass die gebildeten Eltern ihre Kinder auf Privatschulen irgendwo in der Welt herumschicken und dass dann tatsächlich die 20 bis 25 Prozent im öffentlichen Schulsystem überbleiben. Das sind die bildungsfernen österreichischen und bildungsfernen Migranten-Kinder. Und das wäre ein Drama für das Land. Dem muss man massiv entgegenwirken. Das Hauptproblem ist das Auseinanderklaffen der guten Schulen und der nicht leistungsorientierten, schlechten Schulen. Unter dem Strich sind die Kinder die großen Verlierer. Das wichtigste Prinzip ist – und das muss man umsetzen: Lernen funktioniert nur über Beziehung, und die klassische Belehrungsschule mit Frontalunterricht und lieblos kopierten Arbeitsblättern ist mausetot.
„Wir brauchen ein Lehrerbild, das dem 21. Jahrhundert entspricht“
Text: Gerlinde Tscheplak