Mitgehangen – mitgefangen
Soziale Isolation macht – sofern nicht freiwillig gewählt – krank, warnen die Experten. Die Folgen für jeden einzelnen, aber auch für die gesamte Gesellschaft sind dabei kaum absehbar.
Sozialer Rückzug und Alleinsein lassen sich auf bestimmte Zeit gut ertragen, kann heilsam sein und kreativ machen. Es kommt dabei auf die Dauer der Einsamkeit an und vor allem auch darauf, ob sich die individuelle Person dazu freiwillig und bewusst entschieden hat. Wie schwer wir uns jedoch damit tun, unfreiwillig und plötzlich isoliert zu werden, hat die Pandemie in den letzten Monaten gezeigt. Kinder und Jugendliche zuhause im Lockdown – die Erwachsenen im Homeoffice. Man wurde regelrecht dazu gezwungen, das Leben zu entschleunigen, neu zu ordnen, den Blick auf das Wesentliche zu schärfen und sich vor allem mit sich selbst und der Familie zu beschäftigen. In den meisten Fällen hat das gut funktioniert – und hat auch neue Möglichkeiten und Chancen aufgezeigt.
Familiensituation und Lebensumstände
In intakten Familienumfeldern war diese Zeit durchaus positiv und hat mitunter auch Lebensqualität neu definiert. Abläufe und Rituale, die früher einmal selbstverständlich waren, etwa als Familie zu fixen Zeiten bei Tisch zu sitzen, gemeinsam zu essen, über Befindlichkeiten, Sorgen, Ängste zu sprechen und sich auszutauschen, hatte beispielsweise wieder Platz und Zeit im Familienalltag. Viele schöpften Kraft und schufen Abwechslung, indem sie wieder vermehrt draußen in der Natur unterwegs waren, beim Wandern, Walken oder Radfahren. „In so einer Zeit kann durchaus auch etwas Positives liegen“, so Psychotherapeutin Melanie Bartoloth-Dauschan, „der Zeitraum, die Familiensituation und die allgemeinen Lebensumstände spielen hier natürlich eine große Rolle, ob und wie es funktioniert.“
Nicht abzustreiten ist die Kehrseite der Medaille, denn auch das sind die Fakten: Ist der Alkoholkonsum in Österreich generell schon sehr hoch, hat sich das Trinkverhalten während der Pandemie weiter verschärft. Auch die dokumentierten Fälle häuslicher Gewalt haben vor allem in urbanen Gebieten sichtlich zugenommen.
Anpassungsfähigkeit als wichtige soziale Kompetenz
Die neue Situation, die uns alle aus dem Nichts erwischt hat, war eine große Herausforderung – für jede Einzelperson und Familie, aber auch für alle Arbeitgeber und Unternehmen. Und wie oftmals in Krisenzeiten, müssen hierbei zwangsläufig neue Blickwinkel, Ideen und Geschäftsmodelle entstehen. Bestehende Arbeitsstrukturen wurden umgekrempelt und an die geänderten Umstände angepasst. Homeoffice hat sich spätestens seit Corona-Zeiten als „state of the art“ etabliert und bewährt und ist sicher auch künftig die Standardanforderung an einen modernen Arbeitsplatz. Die Vorteile sind offensichtlich: Ersparnis zeitintensiver Anfahrtswege, neue Möglichkeiten, Familie und Beruf leichter zu vereinbaren, und im Idealfall auch die Reduktion des Stresslevels durch flexible Arbeitseinteilung. Mehr als 90 Prozent der Arbeitnehmer wünschen sich, zumindest tageweise, dieses Modell. Dass sich dabei quasi über die Hintertür auch wieder antiquierte Rollenmuster festsetzen, passiert schleichend und wird wohl als eine Art Kollateralschaden in Kauf genommen. Frauen sind in ihren Mehrfachrollen wieder zurück am Herd, kümmern sich neben ihrer Arbeit wieder verstärkt um Haushalt und Kinderbetreuung. Eine Mehrfachbelastung, welche die Frauen vermehrt fordert und in ihren Rollen und Aufgaben zunehmend an ihre körperlichen und psychischen Grenzen bringt. „Wenn für beide Seiten – sowohl Eltern als auch Kinder – zu viel auf der Strecke bleibt und wenn man dann 24/7 aneinanderklebt – darin liegt die Schwierigkeit und auch mögliches Konfliktpotenzial.“
Wir brauchen persönliche Begegnungen
Erzwungene soziale Einsamkeit macht krank, das belegt einmal mehr auch eine aktuelle Studie der Donau-Universität Krems, mit dem Fokus auf Kinder und Jugendliche. Demnach sind die Heranwachsenden von der Pandemie schwer angeschlagen; sie zeigen verstärkt depressive Symptome, Ängste, Ess- und Schlafstörungen (Mental Health in Adolescents during COVID-19-Related Social Distancing and Home-Schooling, März 2021, Donau-Universität Krems). „Bei Homeschooling liegen die Nachteile einfach in der Dauer“, so Melanie Bartoloth-Dauschan, „denn Schule ist vor allem auch das Miteinander, die Gruppe, der soziale Kontakt für die Kinder; allein schon der Weg dorthin, das Außer-Haus-Gehen – das ganze Drumherum – das ist Schule. Und Lernen ist nur ein Teil der ganzen Schulgeschichte.“
Vor diesem Hintergrund scheint die hohe Zahl der Schulabmeldungen, die sich im Vergleich zu den Vorjahren verdreifacht hat, alarmierend. Österreichweit sind aktuell laut Bildungsministerium 7.515 Kinder bis zur neunten Schulstufe in häuslichem Unterricht; in Kärnten sind es rund 420 Kinder, die heuer von der Schule abgemeldet wurden. „Das kann der gesunden Entwicklung der Kinder schaden“, so Bartoloth-Dauschan. „Es geht hier oftmals nicht um das Kindeswohl und die Bedürfnisse der Kinder. Wenn Kinder für die eigenen Zwecke instrumentalisiert werden, z. B. um politisch motivierten Druck auszuüben, dann ist das nicht förderlich für eine gute Beziehung zwischen Eltern und Kind und kann sich, je länger und rigider das durchgezogen wird, sehr nachteilig für das Kind auswirken und Defizite in der Entwicklung der Persönlichkeit mit sich bringen. Dem gilt es jetzt entgegenzuwirken. Wir alle sind dabei gefordert.“
Text: Gerlinde Tscheplak